"Anschluss", Flucht und Verhaftungen

Der „Anschluss“ Österreichs

Nach ca. fünf Jahren unbeschwerten Lebens in Italien kam für Marko Feingold der „Anschluss“ Österreichs völlig unerwartet. Er erinnerte sich daran, Zeuge der öffentlichen Demütigungen von Juden und Jüdinnen geworden zu sein. Er sah, wie Juden Plakate des autoritären Schuschnigg-Regimes mit den Fingernägeln von den Wänden kratzen mussten, während NS-Sympathisant*innen johlend zuschauten, spuckten und auf „die Juden“ schimpften. Als Jude unerkannt, beobachtete Marko Feingold ganz am Rand des Heldenplatzes, wie Adolf Hitler dort den „Anschluss“ Österreichs verkündete. Das dichte Gedränge der jubelnden Menge ist ihm nachhaltig in Erinnerung geblieben.

Verhaftung und Flucht nach Prag

Marko und Ernst Feingold wurden kurz nach dem „Anschluss“ von der Gestapo für den im Ausland weilenden Vater in Sippenhaft genommen, eine damals verbreitete Methode. Nach einigen Wochen – zuerst im berüchtigten Hotel Metropol und dann im Polizeigefängnis Roßauer Lände – wurden sie unter der Bedingung freigelassen, Österreich sofort zu verlassen. Neue Pässe bekamen sie jedoch nicht. Sämtliche Nachbarländer verriegelt ihre Grenzen und eine Rückkehr nach Italien war nicht mehr möglich. Wie tausende weitere österreichische Flüchtlinge versuchten die beiden in die Tschechoslowakei zu fliehen. Tatsächlich gelang es ihnen, nach Prag zu kommen. Dort versetzte Marko Feingold einige seiner italienischen Anzüge, um sich und seinen Bruder finanziell über Wasser zu halten. Er glaubte den Durchhalteparolen der kommunistischen Zeitung „Die Rote Fahne“, laut derer der NS-Terror in ein paar Wochen vorbei sein würde. Daher unternahm er auch keine Versuche, in ein weiter entferntes Land wie Großbritannien zu flüchten.

Als die Pässe der Brüder abgelaufen waren, wurden die beiden in Prag von der tschechischen Kriminalpolizei festgenommen und kamen für drei Monate in Schubhaft. Danach wurden sie an die polnische Grenze abgeschoben. Vater Heinrich und Bruder Fritz, die zuletzt in Jugoslawien lebten, reisten währenddessen über Ungarn nach Prag und von dort aus weiter nach Polen. Auch der Schwester Rosa gelang es, von Wien über die Tschechoslowakei nach Polen zu flüchten.

Nach Polen abgeschoben

Während Ernst Feingold mit einem Grenzübertrittsschein nach Polen fahren konnte, wurde Marko in der Nacht ohne Ausweis an die Grenze gestellt. Mit etwas Geld der Prager Israelitischen Kultusgemeinde schaffte er es nach Lemberg zu seiner Tante Esther und danach ins nahe Sambor zu Onkel Moritz (Geschwister der Mutter). Beide Städte gehörten damals zur Republik Polen. Nach kurzer Zeit reiste er weiter nach Warschau, da hier bereits sein Vater und beide Brüder bei seinem Onkel Leo (Bruder des Vaters) untergekommen waren.  Rosa heiratete unterdessen in Krakau einen Polen jüdischer Herkunft und blieb dort. Während Marko Feingold in Polen Schutz suchte, hatte die Judenverfolgung in Deutschland und Österreich mit der Reichspogromnacht im November 1938 (siehe Link) ein neue Dimension erreicht; 30.000 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager deportiert, hunderte davon ermordet oder sie starben an den Haftbedingungen.

Die „Warschauer Unterwelt“ war für ihre Fälscherwerkstätten bekannt. Marko und Ernst Feingold ließen sich falsche Ausweispapiere anfertigen, um ihre jüdische Identität zu verschleiern, denn der Antisemitismus war auch in Polen grassierend. Immer häufiger kam es zu offener Gewalt gegen Juden und Jüdinnen. Mit den neuen Papieren wurden die Brüder zu polnischen Staatsbürgern. Dies führte allerdings zu einer Vorladung beim polnischen Militär. Um dem Stellungsbefehl zu entgehen, sahen sie sich gezwungen, Ende Februar 1939 zurück nach Prag zu reisen.

Zurück in Prag – Annexion und Arbeit für die deutsche Besatzung

Ende 1938 annektierten die Nationalsozialisten das Sudetenland, das im Friedenvertrag von Saint-Germain 1919 der Tschechoslowakei zugesprochen worden war. Im März 1939 erfolgte die Besetzung der „Rest-Tschechei“, was einen Bruch des Münchner Abkommens (siehe Link) bedeutete. Damit spitzte sich die Lage auf internationaler Ebene zu. Die britische Appeasement-Politik (siehe Link), mit der ein weiterer Krieg verhindert werden hätte sollen, fand ihr Ende.

Das Brüderpaar stieß in Prag zufällig mit einem alten Wiener Bekannten zusammen. Dieser war nun SS-Offizier, ihnen aber freundlich gesinnt. Er vermittelte die arbeitssuchenden Brüder in das Büro der Wirtschaftsabteilung der deutschen Besatzer. Dort war selbstverständlich nicht bekannt, dass sie Juden waren. Ihre Aufgabe war es, Wohnungen von vertriebenen Juden und Jüdinnen zu inventarisieren und den Wert der Möbel zu schätzen. Beide beschlossen, den Wert des Inventars stark überhöht anzusetzen, um die Nationalsozialisten durch diese Falschangaben zu schädigen. Sie flogen allerdings auf und wurden am 6. Mai 1939 verhaftet.

Erneute Inhaftierung und Überstellung nach Krakau

Die Brüder wurden im Prager Hauptgefängnis inhaftiert und dort von SS-Offizieren täglich brutal geschlagen und monatelang verhört. Letztere vermuteten, die Sabotage-Aktion der Brüder sei Teil des organisierten tschechoslowakischen Widerstands gewesen. Währenddessen brach der Zweite Weltkrieg aus. Im November 1939 erfolgte die Überstellung der beiden ins Militärgefängnis nach Krakau, wo sie noch brutaleren Verhören ausgesetzt waren.  Bald darauf, im April 1940, begann der Bau des nahegelegenen Konzentrationslagers Auschwitz.

Literaturempfehlung:
  • Katerina Capkova / Michal Frankl, Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933–1938, Berlin 2012.
  • Feingold – Überleben in einer erbarmungslosen Zeit. Aufgezeichnet nach Interviews von Fritz Rubin-Bittmann, in: Marko M. Feingold (Hg.), Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, Wien / Köln / Weimar 1993, 241–273.
  • Marko M. Feingold, Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte, hg. von Birgit Kirchmayr / Albert Lichtblau, Wien 2000 (2. Auflage Salzburg / Wien 2012).
  • Florian Freund / Hans Safrian, Die Verfolgung der österreichischen Juden 1938–1945. Vertreibung und Deportation, in: Emmerich Tálos u. a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 767–794.
  • Andreas Krämer, Hitlers Kriegskurs, Appeasement und die „Maikrise“ 1938. Entscheidungsstunde im Vorfeld von „Münchener Abkommen“ und Zweitem Weltkrieg, München 2014.
  • Peter Schwarz / Siegwald Ganglmair, Emigration und Exil 1938–1945, in: Emmerich Tálos u.a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 817–849.